„Ich sende Ihnen einen Gedanken zu. Bitte denken sie ihn weiter“, was ist das nur für ein funkelnder, verlockender, anregender Postkartengruß des Mail-Art-Altmeisters  Robert Rehfeldt! Aufgreifen und Weiterdenken lautet die Devise, Anknüpfen, Kooperieren, originell sein. Dieser künstlerische Ansatz schwirrt auch durch die Jesusbriefe  von Michael Brynntrup, die dieser während der Dauer seines JESUSFILM-Projekts an die beteiligten Filmemacher geschickt hat: Die Jesus-Film-Idee Weiterdenken, aber Selbermachen! Was dann schlussendlich filmisch in den einzelnen Episoden sprießt, ist die reine höhere künstlerische Gewalt. Und damit wären wir auch beim Thema.

Die Jesusbriefe fungieren als Wasser, Dünger und sogar Saatgut für diesen moderierten, heiligen Wildwuchs. Und das Medium Brief erweist sich in seiner Vielfältigkeit durchaus als prädestiniert für das Projekt. Es dient ganz im Allgemeinen der Übermittlung von Nachrichten ebenso wie dem literarischen oder persönlichen Erguss und rückblickend sogar der historischen Beweisführung. Und selbst wenn Briefe an eine größere Öffentlichkeit gerichtet sind, haftet ihnen häufig jene ungreifbare Gloriole des Authentischen und Intimen an, die einem als Leser das Gefühl gibt, Teil und Zeuge eines geheimen Zwiegesprächs zu sein.

Die Jesusbriefe begleiten einesteils den Prozess der filmischen Exegese, liefern Informationen, dokumentieren Fortschritte, und sie sind andernteils Ausdruck des kollaborativen Hintergrunds des Projekts, transportieren eine kreative Stimmung, eine künstlerische Einstellung, und sie offenbaren auch und vor allem einen eigenständigen, eigenwilligen und eigentlich recht gut getarnten künstlerischen 'Spirit', einen höheren Geist oder vielleicht sogar einen tieferen Sinn. Diesen zu extrahieren ist das Ziel dieses Aufsatzes.

Orthographie und Typographie

Was beim ersten Lesen in sämtlichen Briefen ins Auge sticht, ist die – gelinde gesagt – halsbrecherische Orthographie. Im ersten Brief auf der zweiten Seite stolpert man über „Spielrekeln“, das „Neue Zement“ und eine Mannigfaltigkeit im Umgang mit s und ß, mit Doppelungen und Auslassungen, dass man spontan ausrufen möchte: „Ja, es ist ein Kreuz mit der Rechtschreibung“! Herrn Brynntrup guten Gewissens eine Lese-Rechtschreibschwäche attestieren möchte man dann aber doch nicht. Zu gewitzt sind manche der Wortverdreher, die so nonchalant zum Wortspiel ausarten, und zu konsequent ist in den Briefen die Atmosphäre von Albernheit und Blödelei ersichtlich, die mal mit mal ohne spitzfindigen Hintersinn daherkommt. Das Jonglieren mit den Buchstaben kann also eigentlich nur gewollt sein, zumal eben jenes erste Wort auf der zweiten Seite des ersten Briefes wie ein Schlüssel für den Code des orthografischen Unvermögens interpretiert werden kann: Spielrekeln. Da wird auf den spielerischen Umgang mit dem Ernst des Lebens ebenso verwiesen wie auf den Ekel, der durch das Verschreiben das Wort Regeln in Doppeldeutigkeit taucht. Einen gewissen Ekel vor den Regeln und eine unbekümmerte Haltung zur Welt und ihrer Konventionen kann man den von der Geisteshaltung des Punk inspirierten Super8-Filmern der achtziger Jahre wohl ohnehin nachsagen, nicht zuletzt hervorgerufen durch das nicht nach einem Maßstab der Perfektion zu messende Material des Super8-Films. Diese anarchische Eigenwilligkeit in der Auffassung der Welt – durchsetzt mit intelligenten Seitenhieben – zieht sich also auch durch die Orthographie der Briefe. Wenn aus dem Neuen Testament das „Neue Zement“ wird, dann ist das ebenso klug wie albern. Der Verweis auf eine zementierte Weisheit (die im besten Fall durch das Filmprojekt gehörig durchgerüttelt wird) liegt nahe, die pure Lust am Wortspiel aber auch. Im 2. Brief auf der 4. Seite nimmt der Übermut dann Überhand, da ist von einem Tittel und von einer Mischmaschung, von spästensens und Deteils die Rede, man weiß nicht, was soll es bedeuten. Das ist freies Spiel und pure Anarchie, durchsetzt mit einem Hauch expressionistisch und dadaistisch anmutender Lautmalerei. Als überaus eloquent erweist sich dahingegen der 4. Brief (1. Seite), hier heißt es „[…] wenn wir abba A sagen, sargen wir auch Amen.“ Und: „So lässtert uns denn beten […]“ Die Assoziationen an Särge und Lästereien, die hierbei automatisch provoziert werden, schweben undefinierbar irgendwo zwischen Sinn und Sinnlosigkeit, zwischen Religionskritik, Interesse und Spaß. Von diesen freien Assoziationen seien an dieser Stelle genug Beispiele genannt, die Briefe sind gespickt voll davon. Es gibt indes noch eine Gruppe von Assoziationen, die hier noch nicht benannt wurde: Manche der Schreibfehler erinnern an Schreibweisen aus dem Frühneuhochdeutschen, jener historischen Sprachstufe zwischen dem Mittelhochdeutschen und dem Neuhochdeutschen, für deren Verbreitung und Entwicklung die Bibelübersetzung von Martin Luther von immenser Bedeutung war. Als Leser darf man sich unwillkürlich fragen, ob da nicht gar Bildung und ein historisches Fundament gut getarnt, indes genüsslich sich im anarchischen Gestrüpp rekeln. Doch zum – nennen wir es mal intellektuellen – Gehalt später mehr, hier seien nur ein paar orthographische Beispiele genannt: Im dritten Brief heißt es zum Beispiel „zum Theil“, und das gute alte Th weckt automatisch altertümliche Assoziationen und zieht sich wie ein nicht tot zu kriegendes Rudiment durch den gesamten Text. Ganz schön alt sieht auch das „Gantze“ auf der 2. Seite des 4. Briefes aus. Dass die Überschriften neben den in Druckbuchstaben handschriftlich verfassten Briefen wirken wie in altdeutscher oder Frakturschrift abgefasst, erscheint hierbei nur noch wie ein Tüpfelchen auf dem I. Aber um das hier nicht ausufern zu lassen, bleibt an dieser Stelle abschließend nur die Bibel zu zitieren: Wer da sucht, der findet (Matthäus 7).

[...]

Zurück