überSCHNEIDUNGEN lautet der wunderbar doppeldeutige Titel dieser Ausstellung. Wenn man spaßeshalber Google nach diesem Begriff befragt, dann stößt man auf eine funkelnde Ausgeburt abendländischer Bürokratie: Das Formular zur Meldung von Überschneidungen. Das Rathaus als Hort der städtischen Ordnung bietet dafür einen allzu passenden, wenn auch nicht ganz ironiefreien Rahmen. Ordnung ist aber das Stichwort, das an dieser Stelle relevant wird. Das Überschneiden im Sinne von Überkreuzen bedeutet häufig, das Formular beweist es, einen Unruhezustand in der gegebenen Ordnung, den es im Alltag zu vermeiden gilt. In der Kunst hingegen herrscht ein ganz eigener Relativismus vor bei dem Ordnung und Unordnung eine neue, oftmals unscharfe Wertigkeit erfahren. 

Eine eindeutige Definition kann ich mir allerdings nicht aus den Rippen schneiden, wenn Sie das glauben, dann haben Sie sich geschnitten und die enttäuschte Erwartung schneidet Ihnen Gesichter. Ich hoffe, ich schneide mir dabei nicht ins eigene Fleisch und Sie schneiden mich fortan. Die Schere der Gesellschaft ist ohnehin schon groß genug und will ich nicht aufschneiden, so muss ich zugeben, man lebt mit der Kunst auf Messers Schneide... Ich könnte noch eine Weile so weitermachen, aber Sie sehen, dass die zweite Bedeutung des Wortes Überschneidungen erstaunlich negativ konnotiert ist, denn es geht beim Schneiden im alltäglichen Gebrauch eben doch um einen Akt der Zerstörung. Allenfalls Autos sind positiv schnittig, aber auch nur, weil sie den Luftwiderstand zerschneiden ergo zerstören. In der Kunst sieht die Sache – sie werden es ahnen – dahingegen schon wieder ganz anders aus. 

Ohne nun eine Geschichte des geschnittenen Papiers aufrollen zu wollen, möchte ich, bevor ich zu den vier hier ausgestellten Künstlerinnen komme, noch einen Künstler der Nachkriegsmoderne erwähnen, der in Theorie und Praxis dem Schnitt zu großer Bedeutung verholfen hat: Lucio Fontana. Vielleicht kennen Sie seine in den Museen der Welt beheimateten Bilder, die nichts darstellen und nichts weiter zeigen als einen beherzt in den Bilduntergrund getriebenen Schnitt. Mit dieser Zerstörung des Bildgrundes hat er das zweidimensionale Gemälde transformiert in ein dreidimensionales, gleichsam plastisches „Raumkonzept“ (so auch der Titel der Arbeiten). 

Damit haben wir nun schon einmal die Koordinaten abgesteckt zwischen denen sich die vier hier ausgestellten Künstlerinnen bewegen: Ordnung bzw. Struktur auf der einen und Transformation bzw. Raum auf der anderen Seite. Aber sie tun das auf mitunter recht unerwartete Weise. 

Astrid Schindler geht das Thema Ordnung nämlich herrlich ironisch und ziemlich wörtlich an. Von ihr stammt diese riesenhafte und sehr augenfällige Arbeit aus Gewebefolie und eine zweite kleinere und sehr nachlässig wirkende Arbeit in Gestalt einer Gummimatte. Die in Augsburg geborene und in Stuttgart lebende Künstlerin arbeitet vor allem installativ und setzt ihre Objekte wie Zeichen in die bestehende Raumsituation. Doch so ohne weiteres sind diese Raumzeichen nicht 

zu entziffern, denn geradezu kryptisch fläzt die Gummimatte über dem Geländer (falls Sie sie nicht sehen, wundern Sie sich nicht, ich komme noch dazu) und undurchschaubar wallt die Plane von ihrer angeberisch prominenten Höhenlage. Die Arbeiten von Astrid Schindler reagieren eigentlich immer auf ihr Umfeld, mal formal, mal inhaltlich, als Erweiterung, Erfahrung, Kontrapunkt, Fragezeichen, da lässt sich guten Gewissens keine Schublade mit füllen. In diesem Fall loten sie die Möglichkeiten der Kunstpräsentation in einem öffentlichen Gebäude aus und formen zugleich ein struppig eigenbrötlerisches, aber zugleich offensichtlich artifizielles Arrangement. Dem geht eine lange Geschichte voraus, die ich kurz machen will: Eigentlich wollte Astrid Schindler eine Arbeit mit Klebeband auf dem Boden aufbringen. Aber ein Rathaus ist nun einmal keine Galerie und Nageln, Kleben, Stellen sind verboten. Ordnung muss sein und um diese zu wahren, hat Schindler ein Material an die Wand gehängt, das seine endgültige Form durch die Art der Aufhängung selbst erhält. Die Größe wird dem Umraum gerecht, die Farbe beißt sich mit der des ersehnten Bodens, die Einschnitte präsentieren das fast schon malerisch anmutende Bicolor der Baumarktfolie. Die Gummimatte über der Brüstung sollte sich als winziger Kontrapunkt zwischen Abdeckplatte, Sensorhaube und Stufenaufstieg kuscheln und aus dem Ganzen ein Ensemble machen. Offensichtlich ist daran allerdings nichts, man muss entdecken und erkunden und wer das nicht tut, der kommt schnell mal auf die Idee, die Allerweltsgummimatte mit dem Loch kurzerhand zu entsorgen. So geschehen in der vergangenen Woche – ohne Witz und doppelten Boden – und einen besseren Beweis dafür, dass Kunst nachhaltig die Ordnung ins Wanken bringen kann, gibt es eigentlich nicht. 

Auf ganz andere Art bezieht sich auch Aslimay Altay-Göney auf die öffentliche Ordnung. Das Rathaus ist ihr nicht Raum, sondern eine Manifestation jener übergeordneten Macht, die das Leben der Bürger in geordnete Bahnen lenkt. Die Serie der in Istanbul geborenen und in Esslingen lebenden Künstlerin heißt folgerichtig „Obligatorisch“. Auf den einzelnen Bildern sind Gruppen von Kindern und Jugendlichen in alltagstypischen Situationen zu sehen und im ersten Moment denkt man sich gar nichts dabei. Es spricht ja auch nichts gegen Ordnung und Gesellschaft– und Rathäuser wohlgemerkt. Aber andererseits, wollen die Kinder das denn wirklich? Oder gehört sich dieses oder jenes Ritual, der Fahnenumzug, der Gruppenschwimmunterricht, nicht vielmehr so für die Eltern, die Gesellschaft, wen auch immer, nur eigentlich nicht für die Kinder selbst? In erzählerischen Momenten voller Anmut, die so gar nicht politisch wirken, entfaltet Aslimay Altay-Göney ein kleines Kaleidoskop der Macht und Manipulation, der gesellschaftlichen Zwänge und politischen Chancengleichheit in einer Welt der Parallelgesellschaftlichen, unter denen vor allem die Kinder dieser Welt zu leiden haben. Nicht nur der Inhalt auch die Form entfaltet sich wortwörtlich vor unseren Augen. Denn die gelernte Bildhauerin schneidet, faltet und dreht ihre Figuren so lange, bis sie sich wie ein papiernes Relief aus der Fläche hinaus in den Raum hinein erstrecken. Ursprünglich waren die dreidimensionalen Papierbilder auch als Studien für Skulpturen gedacht. Wenn nun Henri Matisse, der Meister des modernen Scherenschnitts, seine Technik als mit der Schere zeichnen beschrieb, so kann man Aslimay Altay-Göney problemlos als eine Bildhauerin mit der Schere, bzw. mit der zeitgenössischen Variante dem Cutter bezeichnen. 

Bei den beiden folgenden Künstlerinnen frage ich mich – im Unernst gesprochen – welche der beiden wohl die ruhigere Hand und die größere Geduld aufweist: Inge Koch oder Fiene Scharp. Beide verhandeln die Themen Ordnung und Raum rein bildimmanent und äußerst arbeitsintensiv. Damit haben sich die Gemeinsamkeiten aber auch schon erschöpft. 

Inge Koch ist eine Sammlerin, wie sie im Buche steht. Sie hat einen Blick für das Ungesehene und Ungewollte, das Skurrile und Allzugewöhnliche, das Vergängliche und Artifizielle auf den Straßen und Flohmärkten in Stuttgart und Umgebung. Und sie erkennt in den kunstfernsten Objekten, das in ihnen schlummernde künstlerische Potential, das sie dann in zumeist mühevoller Kleinarbeit zutage fördert. Von ihr stammen die Objektkästen, in denen sich in belebter Enge die Krebse und Stadtpläne tummeln. Schnitt für winzigen Schnitt hat Inge Koch aus einem veralteten Falk-Städteatlas die süddeutschen Ortschaften von ihren Bauten befreit und einzig Straßenzüge und Parkanlagen stehen lassen. Übereinandergeschichtet und in Reihung ergibt sich das erstaunlich ornamentale Relief einer dreidimensionalen Stadtlandschaft, das mit Einblicken, Durchblicken und kompositionellen Konstellationen eine aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gelöste formale Eigenwertigkeit erhält. Für Inge Koch bedeutet das Ausschneiden immer auch, ein Objekt in einen anderen Kontext zu setzen. Die Kontextreste, sprich die Gebäude, hängt sie im Tütchen wie einen Bausatz dazu. Und wie das filigrane Adernetz eines Blattes rekeln sich die entkernten Straßenzüge der einen Ortschaft über das Fenster. Die Krebse entstammen einer Banderole, deren ursprünglicher Sinn sich nicht so ganz erschließt. Bei ihr aber rotten sich die Schalentiere und anderen Wasserbewohner aus ihrem ornamentalen Gefängnis befreit zu einer anarchischen Horde zusammen, während die Banderolen mit ihren Negativformen – mit Nadeln festgepinnt wie seltene Schmetterlinge – die Einsamkeit der Ordnungsliebe ausrufen. 

Die „Rasterzeichnungen“ von Fiene Scharp sind so zart, dass sie auf die Entfernung kaum wahrnehmbar sind. In einer rigiden Ordnungsstruktur überzieht sie das Papier mit haarfeinen Schnitten, setzt mit Cutter oder Skalpell Strich um Strich in rhythmischer Reihung, und man hätte das Gefühl auf die Zeilen einer abstrakten Sprache oder eines endlosen Barcodes zu blicken, wäre da nicht diese verstörende Regelmäßigkeit. So aber entsteht der Eindruck einer Perforation, bei der sich Schnitte und Papier zu einem einzigen, zusammengehörigen Objekt zusammenschließen. Doch auch das trifft es nicht ganz, denn die auf den ersten Blick fast maschinell anmutende Formenstrenge wird von der Berliner Künstlerin subtil unterwandert. Statt minimalistischer Glätte und Perfektion sträubt sich in ihren Werken das Papier in seiner organischen Materialität sanft gegen die formale Einverleibung. Ihre zeichnerische Geste, so präzise sie sein mag, verursacht hauchfeine Abweichungen und winzige Differenzen zwischen den einzelnen Elementen, so dass bei genauer Betrachtung kein Strich dem anderen aufs Haar gleicht. Bei einer anderen hier gezeigten Werkgruppe löst sie von Hand einzelne Kästchen aus Millimeterpapier, dem papiergewordenen Inbegriff zeichnerischer Präzision. Sie kann auch hier nicht mit der maschinell vorgegebenen Gleichförmigkeit mithalten. Will sie auch gar nicht. Es ist dieser dem Werk inhärente Konflikt, um den es Fiene Scharp geht. Ihre stillen Arbeiten fordern uns Betrachter 

erstaunlich beredt zum Hinsehen heraus. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als sämtliche Erwartungen über Bord zu werfen und uns einzulassen auf das marginal Andere im Ähnlichen, das Individuelle im einförmig Gleichen, die vom Leben und seinen Unzulänglichkeiten erzählenden Knicke, Kanten und Abweichungen in einer allzu überstrukturierten Welt. 

Sie sehen, Ordnung und Raum sind äußerst relative Gefüge. Während Astrid Schindler innerhalb dieser Koordinaten den Ausstellungsraum umdefiniert und die Bedingungen des Ausstellens halbironisch hinterfragt, verweisen Aslimay Altay-Göneys Papierreliefs auf den politischen Raum, derweil sie sich in den dreidimensionalen hinein ausdehnen. Inge Koch wirbelt Kontexte so wild durcheinander, dass man sich fragen muss, was Ordnung eigentlich ist, und Fiene Scharp präsentiert uns scheinbar aufgeräumte Kunst, die sich en detail als extrem widerständig entpuppt. Es herrscht jedoch eine erstaunliche Einigkeit bei den vier so unterschiedlichen Künstlerinnen, was die Definition des Schneidens betrifft. Allen Redewendungen zum Trotz wird der zerstörerische Moment des Schneidens konsequent ins Schöpferische umgemünzt, so als wollte aus jedem Schnitt ein neuer Phoenix schlüpfen. Ich kann an dieser Stelle das vielschichtige Werk der Künstlerinnen natürlich nur anschneiden. Aber mit diesen Ausschnitten und ein wenig Zeit und Muse stehen Ihnen hoffentlich noch einschneidende Erlebnisse in dieser Ausstellung bevor.

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