Fotografie begegnet uns heutzutage allerorten. Jeder kann mit seinem Smartphone zum eigenen Weltchronisten werden und wirklich jeder hat einen Cousin, Neffen, Schwager, der Hobbyfotograf ist und die Hochzeit, Taufe, Familie viel billiger fotografieren kann. Man könnte sogar so weit gehen und zumindest unserer westlichen Zivilisation den evolutionstheoretischen Stempel „Homo fotograficus“ aufdrücken. Denn es sind Bilder, die unser Bild prägen von Gesellschaft, Politik und Wandel. Bilder haben Macht, Bilder unterliegen einer Inflation, Bilder sind Alltag, Bilder sind Kunst, ... Sie merken, es gibt kaum etwas Widersprüchlicheres als die Philosophie zur Fotografie.

Also was genau ist eigentlich Fotografie?  So manchem mag angesichts dieser Frage nun der kalte Schweiß auf die Stirn treten eingedenk der Flut von Theorien und Diskursen, die über Fotografie kursieren, aber sorgen Sie sich nicht, ich werde den theoretischen Teil kurz halten.

Ich zitiere: „ Die Photographie ist eine wunderbare Entdeckung, eine Wissenschaft, welche die größten Geister angezogen, eine Kunst, welche die klügsten Denker angeregt – und doch von jedem Dummkopf betrieben werden kann“. Raten Sie wer und vor allem, wann er das gesagt hat! Es war Nadar, einer der Fotopioniere im Jahr 1856. Was nach digitaler Realität klingt, entstammt einer Zeit, in der die Porträtierten noch Kopfstützen tragen mussten, um lange genug still zu sitzen, damit ihr Abbild auf einer beschichteten Platte fixiert werden konnte. Sie sehen: Fotografie war schon immer ein widerspenstiges und sich struppig jeder Kategorisierung widersetzendes Medium.

Der Begriff Fotografie stammt aus dem Griechischen von „photos“ – Licht und graphein – schreiben, malen und bedeutet soviel wie „Malen mit Licht“. Damit ist eigentlich schon viel gesagt. Denn darin ist der zweifache Status, den Fotografien inne haben, bereits enthalten: Das Technisch-Dokumentarische und das Kreative. Der Schriftsteller Wilhelm Genazino hat für diese Sonderstellung der Fotografien ganz großartige Worte gefunden: „Artefakte sind sie, weil es eines ästhetisch agierenden Fotografen bedarf, der ein Bild, ehe er es „macht“, vorher als Kunstbild „sehen“ muss. Und sie sind zugleich Dokumente, weil jedes Foto, trotz seiner ästhetischen Zurichtung, einen hohen dokumentarischen Anteil bewahrt.“

Und damit wären wir dann direkt beim Kern der Fotografien von Martin Sigmund.  Er zeigt hier im Rathaus 5 Serien, die nicht aussehen wie Politik, vielleicht nicht einmal unbedingt wie Ästhetik, es aber beides gleichwohl sind. Die Fotografien sind im Grunde politische Analysen, die nach einem poetischen Prinzip funktionieren. Oder anders gesprochen: Sie dokumentieren einen Geist der Zeit nach ästhetischen Gesichtspunkten.

Was haben Sie für ein Bild zu Europa im Kopf? Würde ich jetzt drei von Ihnen fragen, würden Sie mir drei verschiedene Bilder nennen. Viele von Ihnen haben wahrscheinlich sogar gar kein Bild abrufbar, denn Europa ist ein Abstraktum, ein Konstrukt, das im stetigen Wandel begriffen ist. Man muss sich sein eigenes Bild davon erst machen. Für Martin Sigmund manifestiert sich der europäische Gedanke in den verlassenen Grenzstationen, welche die seit dem Schengener Abkommen geöffneten innereuropäischen Grenzlinien sprenkeln. Seit 2005 reist er durch Europa, um diese verlassenen Architekturen auf Film zu bannen. Hier im Foyer des Erdgeschosses zeigt er eine kleine Auswahl seiner Serie „Border“. Einsam sind diese Bilder und meist menschenleer. Sie strahlen die Verlorenheit und Unwirklichkeit von Orten aus, die eigentlich keine Orte mehr sind. Die Grenzübergänge sind Nicht-Orte geworden, die als stumme Zeugen in ihrer funktionalen Statik die Welt an sich vorbeifließen lassen. Fotografisch scheinen sie eher eingewoben zu sein in einen einzelnen lichtdurchwirkten Moment, denn in die Realität. Dieser eine Moment ist es denn auch, für den Martin Sigmund seine Reisen unternimmt. Dieser eine Moment ist es, auf den er mitunter tagelang wartet, um dann mit seiner Großformatkamera jene entrückte und doch präzise Stimmung einzufangen, in der sich die Melancholie des Verlustes mit der Hoffnung des Neubeginns paart. Und in der sich das Davor, Dahinter und Danach der Grenzen ebenso abzeichnet, wie das Hier und Jetzt.

Für den Filmtheoretiker Siegfried Kracauer wird auf Fotografien nicht die vergangene Zeit anschaulich, sondern die Tatsache ihres Vergangenseins. Wenn Sie ein Foto von sich selbst aus den 80er Jahren in den Händen halten und ihre damalige Frisur sehen, dann wissen Sie, dass diese Zeiten  - zum Glück – vorbei sind. Und in ähnlicher Weise markieren die Grenzen als Relikte eines vergangenen Europas den Wandel der Zeit, die an diesen „Restbeständen der Geschichte“, so Kracauer, vorbeigeströmt ist.

Dieses Prinzip lässt sich ebenso an den „Wallpaper“-Bildern im ersten Stock beobachten. Auch diese Wandbilder scheinen der eigentlichen Zeit entrückt und in einem Stadium der Melancholie gleichsam konserviert zu sein. Es sind Wände in verschiedenen Niederlassungen des Nonneordens der Vincentinerinnen im Süden Tansanias, die Martin Sigmund 2009 bereiste. Wörtlich betrachtet, entfaltet sich in diesen stillen Tableaus das religiöse Weltbild der Nonnen in einer missionierten Kultur, die eine Position inmitten von Glaube, Kitsch und der profanen Praktikabilität des Alltags einnehmen. Wegen ihres engen fotografischen Fokus gestatten die Bilder aber eigentlich keine Rückschlüsse auf den Ort ihrer Entstehung, sie erscheinen geradezu seltsam ortlos und erlauben so, ja fordern geradezu, die Übertragung auf das große Ganze: welchen Status nimmt die traditionsverhaftete Religion in unserer heutigen, dem Fortschritt huldigenden  Welt eigentlich ein? 

Ebenfalls im Obergeschoss sehen Sie Bilder von Brückenfragmenten, die sich majestätisch in der verschneiten Landschaft erheben wie Kathedralen des Fortschritts, daneben Tunneleinschnitte und Baustellenansichten, die unter einer dichten Schneedecke begraben sind. Der Volksmund nennt diese Brücken „So-da-Brücken“, weil sie einfach so dastehen. Sie sind Teil der geplanten Schnellbahnstrecke zwischen Nürnberg und Erfurt, deren Fertigstellung sich so in die Länge zieht, dass die Brücken saniert werden müssen, bevor sie das erste Mal befahren worden sind. Das Bauen als Synonym des Fortschritts gerinnt in diesen Bildern zur sinnfälligen Stagnation. Die kapitalistische Grundhaltung des „Größer, schneller, weiter“ wird hier ebenso sanft ad absurdum geführt wie letztlich durch die stille Schönheit der Bilder mystifiziert. Ohne sich zwingend politisch festzuschreiben, stellen die Fotografien undogmatisch die Frage nach der Kluft zwischen Plan und Wirklichkeit bei deutschen Großbauprojekten. Und damit automatisch auch nach dem Status der Demokratie im doch nicht ganz so politikverdrossenen Deutschland, da sich just die Gemüter an eben jenen Projekten – ironisch bis kämpferisch, bis hin zur Volksbefragung – erhitzen.

Von der Fehlplanung ist der Weg nicht weit zum kollabierenden Kapitalismus, den Martin Sigmund in einem Land unter die Lupe nahm, das 2008 Konkurs ging. Die Serie “Elves & Capitalism“, die sich hier so symbolträchtig die Treppe herauf- – oder je nach Standpunkt herunter – windet ist vier Jahre nach dem Staatsbankrott in Island entstanden. Geologisch unbeherrscht, räumlich begrenzt und – man muss es sagen – lausig kalt beherbergt diese Insel ein erstaunliches Völkchen, das der Natur ebenso trotzt, wie dem europäischen Usus und kurzerhand die Banken pleite gehen lässt statt die eigenen Bürger. Die Bilder machen sich auch hier auf die Suche nach dem Warum, dem Ursprung dieses Humanismus. Vielleicht kommen ja auch genau dort die vielbesungenen Elfen her...

Zu guter Letzt untersucht Martin Sigmund eine weitere abstrakte Größe menschlicher Zivilisation: Das Internet. Im intimen Rahmen zeigt er Porträts von Online-Skatspielern und damit die Gesichter hinter den anonymen Nicknames der virtuellen Welt. Die meisten der Spieler, die er angeschrieben hat, wollten allerdings lieber in der Anonymität verbleiben.

Die Fotografien von Martin Sigmund sind im wahrsten Wortsinn Bestandsaufnahmen. Auf visuellen poetischen Umwegen nagen sie indirekt am Zahn der Zeit und beleuchten momenthaft aus dem Strom der Geschichte herausgefischte Augenblicke. Ich möchte mit einem Zitat von Leonard Cohen enden, der passenderweise genau heute seinen 80igsten Geburtstag feiert. Das Zitat gewinnt, wenn man es auf das Medium des Lichts, auf die Fotografie, bezieht, eine erstaunliche Doppeldeutigkeit: „There is a crack in everything, this is how the light gets in!“ Übersetzt heißt das so viel wie: Es gibt in allem einen Riss und genau dort dringt das Licht herein.

Das ist genau der Punkt, an dem Martin Sigmund mit seinen Bildern ansetzt.

Zurück